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Willkommen zurück in der Verantwortung. Zwei Bücher widerlegen das Dogma von der Allmacht der Gene

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Genetik und Demographie sind zu den Leitwissenschaften des 21. Jahrhunderts avanciert. Die angeblich ehernen Gesetze der Bevölkerungswissenschaft erzwingen etwa die Erhöhung des Renteneintrittsalters; angeblich gesicherte Erkenntnisse über die genetischen Ursachen von Schulversagen und anderen unliebsamen Erscheinungen befeuern die Fremdenangst und rechtfertigen die Ausgrenzung des Prekariats. Und ein Buch, das Demographie und Genetik miteinander verrührt, wird zum Bestseller.

Ein erstaunliches Comeback. Denn nach dem Ende des Dritten Reichs, des europäischen Kolonialismus, der Rassendiskriminierung in den USA und der eugenischen Programme in vielen westlichen Ländern galten beide Wissenschaften als kompromittiert. Soziologie und Psychologie wurden zu den Leitwissenschaften einer optimistischen Ära, in der die Perfektibilität des Menschen aus der Perfektibilität der Gesellschaft zu folgern schien. Auf deren Höhepunkt mutierte selbst das Geschlecht zum psychosozialen Konstrukt.

Es war klar, dass in der – immer auch ideologisch aufgeladenen – Debatte über nature versus nurture das Pendel irgendwann nach der anderen Seite aussschlagen würde; das geschah spätestens am 26. Juni 2000, als US-Präsident Bill Clinton zusammen mit Craig Venter und Francis Collins die Entschlüsselung des menschlichen Genoms bekanntgab.

Nun schien beinahe jedes menschliche Verhalten genetisch erklärbar, ja vorherbestimmt: Frauen können nicht einparken, weil ihre Vorfahren nicht auf die Jagd gingen und darum nicht für ihre räumlichen Orientierungsfähigkeiten selektiert wurden; Männer können nicht zuhören, weil Empathie dem Jäger keinen evolutionären Vorteil gewährt; und ob jemand an Krebs oder Depression, Fettleibigkeit oder der Modekrankheit ADS erkrankt – oder ob er Fußballstar oder Humangenetiker wird: das alles und noch viel mehr war in seinen Genen programmiert. Die Genetik wurde zur Leit- und Begleitwissenschaft eines Jahrzehnts der Verantwortungslosigkeit: Ich bin’s nicht, meine Gene sind’s gewesen.

„Im Rückblick waren unsere damaligen Ansichten über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast schon peinlich ist“, gibt Craig Venter mittlerweile zu. Das Zitat findet sich im neuen Buch des Wissenschaftsjournalisten Peter Spork: „Der zweite Code. Epigenetik – oder Wie wir unser Erbgut steuern können“.

Wie wenig das Genom für sich genommen die Gestalt des individuellen Lebewesens bestimmt, zeigt Spork anhand der Metamorphose eines Schmetterlings: „Das simple wurmartige Geschöpf, das nicht viel mehr konnte als fressen und kriechen, trug in jeder seiner Zellen exakt dieselben Gene wie das herrliche Tier, das jetzt so unnachahmliche Flugkunststücke vorführte… Was sich geändert hatte, waren einzig die epigenetischen Programme. Einen Winter lang wurden in Millarden Zellkernen Methyl- und Acetylgruppen umgebaut, Histone verformt, Mikro-RNAs gebastelt, was das Zeug hält. Hinterher hatte fast jede Zelle eine andere Aufgabe.“

Wie das alles funktioniert, beschreibt Spork detailliert, aber auch für den Laien verständlich. Er findet für das Zusammenwirken von Genom und Epigenom folgendes Bild: „Erbgut und Proteine funktionieren wie eine riesige Bibliothek: die DNA enthält dabei die Texte, während die epigenetischen Strukturen die Bibliothekare, Ordner und Register sind, die die Informationen verwalten und sortieren.“

Das Genom – unser Chromosomensatz – ist relativ stabil und vor Umwelteinflüssen geschützt; wäre dem nicht so, gäbe es keine über Jahrtausende und Jahrmillionen relativ stabilen Arten. Das Epigenom hingegen, das die konkrete Ausprägung des Genoms – des Erbguts – im einzelnen Individuum und in der einzelnen Zelle regelt, ist relativ stark von Umwelteinflüssen abhängig – zum Beispiel von der Nahrung.

Aus Bienenlarven, die mit Gelée Royale gefüttert werden, werden Königinnen. Die anderen werden Arbeiterinnen. Die Kinder rauchender Väter oder Alkohol trinkender Mütter weisen signifikante Gesundheitsschäden auf, die mit der Programmierung ihres Stoffwechsels zusammenhängen. Die Niederländer haben sich aufgrund verbesserter Ernährung innerhalb von 150 Jahren von einem körperlich kleinwüchsigen Volk zu einem Volk von langen Kerls entwickelt.

Aber auch psychische Faktoren – Erziehungs- und Umgangsformen, Religion und Meditation, das eigene Selbstwertgefühl und die Anerkennung durch andere – hinterlassen ihre Spuren im Epigenom und bestimmen darüber, wie sich der Körper – und auch sein wichtigstes Organ, das Gehirn – entwickelt. „Gene sind kein Schicksal“: Das ist der Titel eines weiteren Buchs zum Thema, das der SPIEGEL- Journalist Jörg Blech fast zeitgleich vorgelegt hat, und das erklären will, „wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können“. Willkommen zurück in der Verantwortung.

Wer Näheres über die biochemischen Grundlagen der Epigenetik und über die individuellen Möglichkeiten der Optimierung des eigenen Erbguts – durch Ernährung, Sport, Meditation usw. – erfahren will, ist bei Spork besser bedient; wen die gesellschaftlichen und politischen Implikationen der neuen Wissenschaft interessieren, wird bei Blech fündig. In Bezug auf Thilo Sarrazins Thesen von der angeborenen Intelligenz nimmt er kein Blatt vor den Mund: sie sei „wissenschaftlich gesehen blanker Unsinn“. Trotz eifriger Suche sei es den Wissenschaftlern nicht gelungen, ein „Intelligenz-Gen“ zu finden. „Vermutlich sind es Hunderte, wenn nicht gar Tausende Gene, die für die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen eine Rolle spielen – und das tun sie natürlich im Zusammenspiel mit den Einflüssen aus der Umwelt“.

Die Zwillings- und Adoptionsforschung hat von den angeblich vererbten Intelligenzunterschieden zwischen den Ethnien und sozialen Klassen wenig übrig gelassen; praktische Erziehungsexperimente haben die enorme Plastizität des menschlichen Gehirns und die überragende Rolle der Umwelt bei der Herausbildung der Intelligenz belegt. Wenn sich Deutschland „selbst abschafft“, dann nicht wegen einer quasi natürlichen Abnahme der Intelligenz infolge demographischer Verschiebungen, sondern, wie es vor 50 Jahren Georg Picht formulierte, weil das Land die vorhandenen „Bildungsreserven nicht ausschöpft“.

Dialektik der Aufklärung: die Weiterentwicklung der Genetik zur Epigenetik setzt die Umwelt, die Gesellschaft, die Familie und das Individuum wieder in ihre Rechte und legt die Grundlage für eine neue Synthese von Genetik, Psychologie und Soziologie.

Peter Spork: Der zweite Code: Epigenetik – oder Wie wir unser Erbgut steuern können. Rowohlt, 300 S., 19,90 Euro. Jörg Blech: Gene sind kein Schicksal. Wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können. S. Fischer, 286 S., 18,95 Euro


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